Der Überbau war schon mal größer, die Gesten aber nicht. Mit seinem sechsten Album spannt der Rapstar Casper Erinnerungsbögen vom Süden der USA bis nach Ostwestfalen.
Eine Rezension von Mathis Raabe
Das Gedächtnis ist ein unzuverlässiger Erzähler: Es ist nicht nur lückenhaft, sondern füllt auch ganz ungefragt manche dieser Lücken. Hat man einer Geschichte einmal etwas hinzugedichtet, glaubt man bald womöglich selbst daran. Das neue Album von Casper scheint sich dessen bewusst zu sein. Auf Nur Liebe, immer. wühlt der Rapper in der Vergangenheit, zwängt sich aber im Gegensatz zu seinen vorherigen Werken kein klares Konzept über. Er springt zwischen Kindheit, Jugend und Gegenwart, dem Süden der USA, Bielefeld und Berlin hin und her.
Casper war einmal der Rapper, der aussah wie alle Mitglieder einer Indierockband gleichzeitig. Er selbst beschrieb sich so, 2009 inMittelfinger hoch, einem ewigen Lieblingssong von Langzeit-Deutschrap-Fans, weil der kommende Genrestar darin noch so unbekümmert klang. Nur wenig später musste Casper seine Erkennungsmerkmale nicht mehr in Texten behaupten, sondern stellte sie musikalisch unter Beweis. Er hat dem deutschen Rap im Laufe seiner Karriere sowohl die E-Gitarre als auch die Gefühle beigebracht. Sein Album XOXO (2011), das mit großen Gesten und allen nötigen Widersprüchen jugendliches Lebensgefühl einzufangen versuchte, gilt zu Recht als Meilenstein.
Viele Kommentatoren wollten darin natürlich einen Gegenentwurf zum bösen Straßenrap sehen – und schrieben über den Nachfolger Hinterland dann erst recht, dass er ja gar kein Rap mehr sei, sondern Rockmusik. Heute, nachdem der populäre Hip-Hop alle möglichen anderen Genres aufgesogen hat, muss man fast darüber lachen, was die Szene einmal bewegt hat. Natürlich hat Casper immer gerappt, auch wenn dazu E-Gitarren erklangen,Thees Uhlmanneinen Refrain sang oder das Rockmagazin Visions ihn mit Titelgeschichten würdigte. Trotzdem kann man sagen, dass er auf seinem neuen, sechsten Album Nur Liebe, immer. rappt wie lange nicht mehr. Eine gute Nachricht für die Fans von 2009.
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Casper ist 1982 als Benjamin Griffey in Lemgo geboren, wuchs bis zu seinem elften Lebensjahr aber im US-Bundesstaat Georgia auf. Gar nicht so weit weg also von den Südstaatenstädten Atlanta und Memphis, die Hip-Hop seit den Neunzigerjahren mehrfach revolutioniert haben. Den Aufstieg des Trap-Rap hat Casper aber auch von Deutschland aus mit Begeisterung verfolgt. Selbst machte er solche Musik zunächst nur in Form von Nebenprojekten wie Gloomy Boyz. Inzwischen mischen sich aber auch in seinem Hauptwerk neue und alte Rapstile. Die Indie-Anleihen und das Ausladende des Postrock dagegen rücken auf Nur Liebe, immer. in den Hintergrund.VonLang lebe der Tod(2017), dem vielleicht besten Rap-Rock-Album in deutscher Sprache, das die Stile nicht nur übereinander legte, sondern aus ihrer Mischung etwas Neues schuf, ist die neue Platte nicht nur wegen ihres Titels weit entfernt, sondern auch musikalisch. Casper agiert diesmal ohne rote Faden, als hätte er ein Album aufnehmen wollen, aus dem sich seine Fans ihre persönlichen Highlights für eigene Playlists herauspicken können.
Gleich zum Auftakt steht ihm diese Lockerheit gut. Echt von unten/Zoé Freestyle wechselt zwischendurch schamlos den Beat, vermischt klassische Hip-Hop-Drum-Loops mit tief brummenden Bässen, autobiografische Zeilen mit Battlerap-Attitüde. Ein beseeltes, aber schnell zusammengestelltes Mixtape könnte so beginnen, "Ich komm echt von unten", beteuert Casper dazu passend in genretypischer Aufsteigermanier. Danach aber erzählt er von den Traumata seines Vaters, eines US-Soldaten, von Gewalt durch den Stiefvater, schließlich von derArmut seiner alleinerziehenden Mutter. Die Lockerheit im Format bedeutet nicht, dass es inhaltlich spaßig zugeht.
Wie Casper damit eine Rap-typische Geschichte erzählt und für sich beansprucht, schließt an einen Diskurs aus einer eigentlich vergangenen Ära an. Seit jeder zweite Influencer sein eigenes Rapalbum macht und das Genre inklusive seines 50. Geburtstags durchkommerzialisiert erscheint, sind Realness-Debatten und Selfmade-Storys eigentlich vorbei. Aber Casper ist ja auch aus einer anderen Ära, und vielleicht ist er sich dessen bewusst: Das Albumcover von Nur Liebe, immer., das ihn als Elfjährigen mit Hund zeigt, aber beide am Bildrand platziert, so als sollte eigentlich die Wand fotografiert werden, verweist nicht nur auf die Auseinandersetzung des Künstlers mit der Vergangenheit, sondern auch auf die beschriebene Idee eines authentischen Aufsteigers. Man kennt solche Kinderfotos auf Alben vonKendrick Lamar, Nas,Killer Mikeund zahllosen anderen Genregrößen.
Caspers Albumtitel klangen zuletzt, als wollte er sich selbst davon überzeugen, dass schon alles irgendwie gut wird: Vor Nur Liebe, immer. erschien letztes JahrAlles war schön und nichts tat weh. Je absoluter die Formulierung, desto weniger kauft man sie ihm natürlich ab. Von der Außenwelt ist auf seiner neuen Platte zwar nicht die Rede, dafür aber von persönlichen Ängsten und Dämonen. In Sowas von da rappt Casper mit gewohnt borstiger Stimme über psychische Probleme, gegen die der Arzt kein geeignetes Mittel findet; die Musik schwillt dazu dramatisch an. Diese dröhnenden Klänge sind ein Casper-Markenzeichen, so wie Pathos insgesamt. Ein lockeres Rap-Mixtape ist ihm deshalb trotz des Verzichts auf konzeptuelle Überbauten nicht gelungen. Als Songwriter kann Casper nicht aus seiner Haut: Vieles muss er mit großer Geste auf- und wieder abbauen.
Ein Kinderfoto auf dem Cover, dahinter ein Album voller Ängste: Das ist kein Etikettenschwindel, sondern bei den Projekten anderer Genregrößen oft ähnlich. Der Blick zurück kann helfen, zu verstehen, warum es einem schlecht geht. Weil aber Erinnerungen mal verklärt, mal neblig sein können, sind auch die Vergangenheitsfetzen auf Caspers Album ganz unterschiedlich in Szene gesetzt: ZeichnetEcht von unten/Zoé Freestyle noch traumatische Kindheitsbilder, um sie in den Dienst einer Aufstiegsgeschichte zu stellen, ist Falsche Zeit, falscher Ort eine Hymne auf Jugendsünden, deren Pathos an XOXO und damit tatsächlich an Caspers künstlerische Jugend erinnert. Ob sich Teenager-Casper damals wirklich so erhaben gefühlt hat, als er nach einer Prügelei mit schmerzendem Kiefer auf dem Polizeirevier saß? Die Wunderwaffe Nostalgie kann alles wohlig-warm erscheinen lassen.
Wenn man aber zu nostalgisch wird, macht man Kitsch. Nur Liebe, immer. endet mit einer Ode an die Stadt Bielefeld, Caspers Bochum, wenn man so will. Der Musiker versteht die ostwestfälische Stadt als seine Heimat und weiß natürlich auch um die Bedeutung des Lokalpatriotismus im Hip-Hop. Mit Zeilen wie "Egal, wohin es mich auch zieht, weiß ich, dass ein Teil von mir für immer bei dir liegt" und dem Verweis auf einen uralten Internetgag über die Nichtexistenz von Bielefeld empfiehlt sich Verliebt in einer Stadt, die es nicht gibt allerdings vor allem für die Jukeboxes örtlicher Kneipen und die SchücoArena von Caspers Lieblingsverein Arminia Bielefeld. Casper wird sich nächstes Jahr einen langgehegten Traum erfüllen und in diesem Stadion auftreten – vielleicht wurde der letzte Song auf Nur Liebe, immer. bereits für den Schlussmoment dieses Konzerts geschrieben. Er passt auf ein Album, das konzeptuell weniger streng erscheint als alle Casper-Projekte nach 2009. Er ist aber auch nicht besser als die Idee, ein Fußballstadion nach einer Fensterfirma zu benennen.
"Nur Liebe, immer." vonCasper erscheint am 24. November bei Eklat/Warner.